Abi 2007
|
|||
Liebe
Abiturientinnen, liebe Abiturienten. Sehr
geehrte Eltern und Angehörige der Familien, liebe Kolleginnen und
Kollegen, verehrte Gäste! Kurz: liebe Abi-Gemeinde! Mein
Schulleiter hat mich gebeten
die diesjährige Entlassungsrede zu halten. Für mich stellte sich das Problem: Was für eine Abiturrede halte ich? Welches Thema passt zu diesem Abiturjahrgang? Wie verknüpfe ich die dem Anlass gebührende Ernsthaftigkeit mit einer humorvollen Kommentierung dieses doch so fröhlichen Ereignisses? Woher
inhaltsschwere Zitate nehmen, um sie möglichst mit Anekdoten aus dem
eigenen Erfahrungsschatz zu verrühren? Rettung
aus diesem Dilemma ist nahe: Wer immer heutzutage etwas sucht, was sein
aktuelles Problem zu lösen verspricht, versichert sich der Auskünfte
einer Suchmaschine im Internet. Ein
Klick auf das Suchwort „Abiturreden“ eröffnet eine wahre Flut von
Problemlösungsangeboten. Ich
zitiere: „Sie wissen, wie viel von der Kraft Ihrer Worte abhängt. Denn
wenn Sie Ihre Zuhörer mit einer unvergesslichen Rede in Bann schlagen, -
haben Sie dem Publikum Gesprächsstoff geliefert, -
wird die Veranstaltung in sehr harmonischer Atmosphäre verlaufen -
wird man Ihnen nicht nur am Tag der Veranstaltung, sondern auch künftig
mit großer Wertschätzung begegnen. Sparen
Sie wertvolle Zeit: Testen Sie noch heute den perfekten Service Ihres
„Reden-Beraters“ - ein umfassendes Grundwerk - 14 Tage lang absolut
kostenlos und ohne jegliches Risiko für Sie“ Zitat Ende!! Ernüchterung
machte sich bei mir breit. Bis ich das passende Angebot daraus
zusammengezimmert habe, habt Ihr, liebe Abiturientinnen, längst die
Schule verlassen. Also
gut, nun habe ich mich selbst gefordert und hier ist das kurze Ergebnis: Keine
Sorge, ich werde nicht über Kolonialismus, Imperialismus, Globalisierung,
Krieg und Terror oder über Frauenbewegung und Alpha-Mädchen referieren;
auch nicht über unsere Gesellschaft, die ohne sozialen Frieden auch
keinen Frieden mit der Natur wird schließen können und in der momentan
eher das protestantische Arbeitsethos „Zuviel an Freiheit ist aller
Laster Anfang“ propagiert und mit vielen Kontrollen und Verboten gesetzmäßig
durchgesetzt wird. Nein,
mein Stichwort hat mir eine Schülerin dieses Jahrgangs geliefert: Ich
zitiere: “Es wäre schön, wenn Sie mal was Nettes über unseren
Jahrgang sagen würden, wir bekommen sonst immer nur zu hören, dass wir
zu wenig können und faul seien - bis auf Ausnahmen“ Zitat Ende. Diese
Aussage hat mich lange beschäftigt und zugegeben, ich habe sofort viele
Beispiele gefunden, die diese negativen Erfahrungen mit diesem Jahrgang
durchaus bestätigen könnten. Manchmal waren es auch nur Einzelne, die
mit Ihren Verhaltensweisen ausgerastet sind und absoluten Realitätsverlust
erlitten haben. Wichtig
für mich ist dabei nur, zunächst nach den Gründen zu forschen und
darauf aufbauend Veränderungen herbeizuführen, die von Vertrauen und
Respekt – und zwar gegenseitig - geprägt sind. Jugendliche und
Heranwachsende brauchen einen Ort, wo sie mit Ihren Sorgen aufgefangen
werden. Vor allen Dingen dann, wenn Schülerinnen und Schüler aus ca. 11
verschiedenen Schulen neu in die gymnasiale Oberstufe kommen, wie es vor
drei Jahren in der Neustadt/Delmestraße der Fall war. Ein Jahrgang mit 84
Schüler/Innen, davon ca. 70% Realschüler/Innen, die fast alle mit
Fahrrad und Zug nach Rotenburg/Wümme auf der 11er Kennenlernfahrt ihre
ersten Erfahrungen unter sich und mit den neuen Lehrer/Innen machten. Dann
der Bruch nach den Herbstferien 2005. Fusion und Umzug nach Huchting in
das heutige altehrwürdige Alexander von Humboldt Gymnasium stand bei
Eintritt in die 12.Jahrgangsstufe für euch und für das Kollegium an. Gelinde
ausgedrückt, die Bedingungen waren nicht gerade optimal und plötzlich
erschien die Delmestraße - im Vergleich zur unübersichtlichen und nur
Beton ausstrahlenden Delfter Straße - wie ein verlorenes Paradies, dem
alle hinterher trauerten und das auch öffentlich immer wieder in den
Kursen formuliert wurde. Die
Unlust am Lernen und das Nichterscheinen zum Unterricht stiegen u.a.
deshalb dramatisch an, so dass z.B. das Schwänzen bzw. die Fehlstunden
nur noch mit ärztlichem Attest ermöglicht wurden. Angesichts
der Tatsache, dass dieser Jahrgang als Erster das Zentralabitur über sich
ergehen lassen musste (wobei bei Schüler/Innen und Lehrer/Innen m.E. die
Hoffnung überwog, das Richtige gelehrt und gelernt zu haben), kam – aus
meiner Perspektive - die relativ späte Einsicht ab Herbst 2006, jetzt Gas
geben zu müssen, um das Abitur zu bestehen. Zu
meiner Überraschung waren plötzlich meine Kurse (Geschichte wie Sport)
wie ausgewechselt: voller Bereitschaft, nicht nur anwesend zu sein sondern
auch mitzuarbeiten, initiativ zu werden, Selbstständigkeit zu entwickeln,
Verantwortung zu übernehmen etc. Das Projekt Abitur hatte jetzt Vorrang
gegenüber fast allen Arbeitsverhältnissen, Freizeitvergnügungen und
Werderfanreisen, zumindest bei der übergroßen Mehrheit dieses Jahrgangs.
Spät aber nicht zu spät habt ihr begriffen, dass das Abitur – auch als
Reifeprüfung bekannt - auch heute noch eine entscheidende Schnittstelle für
euren weiteren Lebensweg darstellt, egal ob in der beruflichen Ausbildung
oder im Studium. Nach wie vor ein wertvoller Chip, den Ihr immer wieder
und möglichst lebenslang aufladen müsst, um wissensmäßig und sozial
bestehen zu können. Er sollte aber auch als Grundlage dienen, eure
Erfahrungen und Fähigkeiten einzubringen in eine Gesellschaft, die nicht
nur durch eine fast totale Fremdversorgung geprägt ist, sondern die auch
noch massive Schwierigkeiten hat mit Ihrer Vergangenheit, mit
Diskriminierungen aller Art, mit kalten unberechenbaren Egoismen und
Umgangsformen, die allzu schnell gewalttätig gelöst werden. Ich
betrachte das Abitur eher als „Zwischenprüfung“ für eure Zukunft und
möchte euch mit auf den Weg geben, was die Institution Schule bisher nur
in Ansätzen leistet: Wenn
ihr in der Ausbildung oder im Studium ständig gesagt bekommt, was ihr zu
tun und zu lassen habt, werdet misstrauisch. Eine ewige Vormundschaft
hemmt eure Entwicklung und ist negativ für euer Selbstvertrauen in die
eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Akzeptiert
Kontrolle aber verteidigt euren Anspruch darauf, dass Vertrauen und
Respekt bessere Lösungsmöglichkeiten darstellen, um zu lernen und zu
leben. Ich
mache jetzt Schluss und sage mit Bertolt Brecht: „Das Recht des Menschen
ist auf dieser Erden, da er doch nur kurz lebt, glücklich zu sein. Dieses momentane Abiturglück habt Ihr euch verdient. Ich bin stolz auf Euch.
Tschüß, Karsten Freese. |
www.humboldtschule-bremen.de |